Die Fülle an Lebewesen auf der Erde entstand nicht nur durch lauter kleine, zufällige Änderungen (Mutationen) am Erbgut, die sich anschließend der beinharten natürlichen Auslese stellen mussten, erklärte der US-Biologe Stuart Newman im Gespräch mit der APA in Wien. Vieles davon sei inhärenten Eigenschaften von biologischen Materialien und der Selbstorganisation geschuldet, sagte er.
Die Gene werden dadurch nicht weniger wichtig, so Newman, der am New York Medical College in Valhalla (US-Bundesstaat New York) forscht. Einerseits bestimmen sie überhaupt erst einmal die Eigenschaften des biologischen Ausgangsmaterials, zweitens sind sie am Schluss dafür verantwortlich, erfolgreiche Formen quasi in Stein zu meißeln, indem sie penible Bauanleitungen dafür bereitstellen.
Gene als Wegbereiter für mehrzellige Tiere
Ein paar neue Gene bereiteten zuallererst den Weg für die Entwicklung mehrzelliger Tiere. Vor etwa 700 Millionen Jahren erlangten einige Zellen, die sich bis dahin nur für kürzere Zeit und in losen Verbänden zusammentaten, die Anleitung für Eiweißstoffe, die ihre Oberflächen "klebriger" machten, und sie besser zusammenhielten. Andere sorgten dafür, dass die Zell-Außenseite und -Innenseite Signale austauschen konnten, dadurch konnten sie ihre Außenbeziehungen und Bewegungen besser koordinieren.
"Solche Zell-Cluster hafteten nun gut zusammen, konnten sich trotzdem aber als Ganzes frei bewegen", sagte der Forscher. Sie zeigten teilweise das Verhalten von viskosen Flüssigkeiten, wo sich zwei zum Beispiel nicht mischen können, und eine die andere umschließt. Als die Zellen später "polar" wurden, also ein Ende sich vom anderen unterschied, konnten sie erstmals Hohlräume formen, und zusätzliche Veränderungen sorgten dafür, dass sich Schichten unterschiedlicher Zellen flach übereinanderlegten.
Immer komplexere Lebewesen
"Bei jedem solchen Schritt entstanden komplexere Lebewesen", so Newman. Sie hätten die einfachen Organismen nicht ersetzt, sondern zusätzliche Orte gefunden, wo sie leben konnten. "Diese Formen mussten auch nicht notwendigerweise miteinander wettstreiten, sie brauchten bloß ihre biologischen Nischen finden, um dort fortzubestehen", erklärte er. Die Evolution könne also auch unabhängig von Konkurrenz funktionieren.
Laut den Standard-Evolutionsmodellen würde es ewig dauern, bis sich Lebewesen stark verändern, weil sich jede kleine Umgestaltung zuerst in der Umwelt bewähren muss und erst danach in einer Population ausbreiten kann. Es bräuchte dadurch sehr lange, bis biologische Vielfalt entsteht. Damit tut man sich zum Beispiel schwer, die "Kambrische Explosion" zu erklären. Zu Beginn des Kambriums vor etwa 530 Millionen Jahren tauchten erstmals Vertreter fast aller heutiger Tierstämme beinahe gleichzeitig in einem evolutionär extrem kurzen Zeitraum auf.
Schnellere Veränderung durch Selbstorganisation
Die Selbstorganisation von Geweben ließe viel schnellere Veränderungen zu, sagte Newman. Wenn die Gene "nur" die Materialeigenschaften bestimmen, kann auch die Physik mitgestalten, indem sie eine große Bandbreite an Formen aufgrund diverser Eigenschaften zulässt. Dadurch entstehen viele verschiedene Lebensformen ohne eine umfassende, pingelige Evolution. "Die genetische Evolution kann allerdings die Formen verfeinern, und vor allem bewährte Formen konsolidieren", so der Entwicklungsbiologe.
Dies könne man zum Beispiel bei seinem eigenen Forschungsgebiet, den Gliedmaßen, beobachten. Bei den ersten vierbeinigen Lebewesen war die Zahl der Endglieder nicht streng reguliert. Es gab Linien, wo die Vertreter mal sieben, mal acht oder gar zehn Finger und Zehen hatten. Irgendwann hat sich dann eine bestimmte Anzahl bewährt und ein genetisches Programm festgeschrieben, wie viel davon ab diesem Zeitpunkt zu bauen sind. "Bei den modernen Lebewesen gibt es diese Variation nämlich nicht mehr", sagte Newman. Säugetiere haben zum Beispiel stets Anlagen für fünf Endglieder.
"Inhärenz in der Entwicklung und Evolution von Lebewesen"
Stuart Newman sprach Mittwochabend (18. Oktober) am Konrad Lorenz Institut (KLI) in Klosterneuburg über die "Inhärenz in der Entwicklung und Evolution von Lebewesen" und nimmt an einem von der Universität Wien veranstalteten Symposium zu den gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Anwendung der "Genschere CRISPR" teil, das heute, Donnerstag, und morgen, Freitag, in Wien stattfindet.
APA/red Foto: APA/APA (dpa)
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