In der aktuellen Situation im Angesicht insgesamt wieder steigender Covid-19-Fallzahlen und dem Durchmarsch der britischen Varianten (B.1.1.7) in Österreich seien die am Montagabend in Aussicht gestellten vorsichtigen Öffnungen "hochriskant". Das erklärte der Komplexitätsforscher Peter Klimek der APA. Die Zahlenanstiege seien nicht den vielen zuletzt durchgeführten Tests geschuldet, man sehe Anzeichen einer noch versteckten dritten Welle durch B.1.1.7. Der Epidemiologe Gerald Gartlehner von der Donau-Universität Krems sieht die Lockerungen auch eher als "symbolische Ankündigungen".
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Neu: Aussagen Epidemiologe Gerald Gartlehner (ab 9. Absatz)
Nachdem noch vor wenigen Wochen eine Sieben-Tages-Inzidenz von um die 50 quasi als Voraussetzung für Öffnungen angeführt wurde, und man nun auch bei sich anbahnenden Werten von um die 200 neuen Fällen pro Woche und 100.000 Einwohnern und Bundesland über Lockerungen nachdenkt, veranlasst den Wissenschafter zu einem gewissen Sarkasmus: "Anscheinend ist die Strategie, das Virus mit unvorhersehbaren Öffnungsschritten zu verwirren."
"Ziemlich erstklassiges Surveillance-Netzwerk"
Österreich habe es geschafft, "in den letzten Wochen und Monaten ein europaweit ziemlich erstklassiges Surveillance-Netzwerk aufzubauen, was die Varianten anbelangt", sagte der Forscher vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und der Medizinischen Universität Wien. Nun sehe man den starken Anstieg vor allem der britischen Variante mit ihrer höheren Ansteckungsrate in den vergangenen Wochen deutlich. So verortet der "Variantenbericht" der AGES den Anteil von B.1.1.7 und der südafrikanische Variante (B.1.351) österreichweit bei knapp unter 60 Prozent (Stand: 26. Februar).
"Es ist aus meiner Sicht nicht nachvollziehbar, warum diese Information nicht so ernst genommen wird, wie sie es eigentlich verdienen würde", so Klimek. De facto habe man bereits so etwas wie eine dritte Welle durch das Umsichgreifen der neuen Variante, die das Infektionsgeschehen eindeutig übernehme.
Positiv sei, dass in den nächsten zwei Wochen die angekündigten Lockerungen im Jugend- und Schulsport sowie die großflächigeren Öffnungen in der "Pilotregion" Vorarlberg noch nicht kommen. Die bundesweiten Lockerungen für Schanigärten sind dann erst für Ende des Monats vorgesehen. Zumindest habe man jetzt noch etwas Zeit, um zu bewerten, "ob sich dieser Trend fortsetzt", so das Mitglied des "Covid-Prognosekonsortiums". Steigen dann die Zahlen stärker, müsse man auch den vorsichtigen Öffnungsplan hinterfragen.
Sehr intensiv habe man zuletzt im Konsortium analysiert, ob die aktuellen Zuwächse der extrem gestiegenen Anzahl an Tests geschuldet sind. "Die Antwort ist ganz klar: Die Zahlen steigen tatsächlich. Wir können diesen Anstieg nicht nur auf die Tests zurückführen - zumindest, wenn man keine jenseitige Annahme für die Dunkelziffer macht." Angesichts der aktuellen Entwicklungen müsse man davon ausgehen, dass sich der Zuwachs weiter fortsetzt, "die Frage ist, wie schnell das geht", so der Forscher.
Luft bei Intensivkapazitäten
Bei den Intensivkapazitäten habe man zum Glück zur Zeit noch Luft. Wenn die Impfprogramme die Risikogruppen noch besser erreichen und der erhoffte positive Effekt durch die wärmeren Temperaturen dazu kommt, sollte auch die Pandemiekontrolle etwas leichter werden. Dann sollten auch Öffnungsschritte leichter zu setzen sein. Damit aber bereits Mitte März zu beginnen, "wenn all das noch nicht eingetreten ist", sei riskant. "Da ist eher der Wunsch Vater des Gedanken und nicht die epidemiologische Entwicklung", sagte Klimek.
Die Idee, Vorarlberg als Öffnungs-Testregion vorauszuschicken, betrachtet der Komplexitätsforscher ambivalent. Am Beispiel Tirol zeige sich, dass regionale Maßnahmen - in dem Fall Verschärfungen - etwas bringen. Jetzt plane man aber regionale Öffnungen, wo die Inzidenz niedriger ist. "Das stellt das Konzept halt auf den Kopf", so Klimek. Sehe man sich die Entwicklung der Varianten im westlichsten Bundesland an, zeige sich, dass der B.1.1.7-Anteil zwar auch dort ansteigt, aber mit Stand Ende Februar erst bei rund 33 Prozent lag. Wenn diese Entwicklung analog zu den östlichen Bundesländern hier zeitversetzt durchschlägt, sei auch im momentan mit niedriger Inzidenz gesegneten Vorarlberg in rund zwei Wochen mit Zunahmen zu rechnen.
Gartlehner: Lockerungen als "symbolische Ankündigungen"
Einige der von der Bundesregierung in Aussicht gestellten Lockerungen der Covid-19-Eindämmungsmaßnahmen interpretiert der Epidemiologe Gerald Gartlehner als eher "symbolische Ankündigungen". Innerhalb weniger Wochen könne sich einfach extrem viel bei den Fallzahlen verändern, so der Experte für Evidenzbasierte Medizin von der Donau-Universität Krems. Sehe man sich die aktuellen Zuwachszahlen an, seien keine seriösen Aussagen in Richtung Ostern möglich.
Die effektive Reproduktionszahl (R-Zahl) ist zuletzt in Österreich wieder über 1,1 geklettert. Das heißt, dass ein Infizierter im Schnitt wieder mehr als eine weitere Person ansteckt, was der gesteigerten Verbreitung vor allem der ansteckenderen britischen Variante (B.1.1.7) geschuldet sein dürfte. Betrachte man nur diesen Wert und gehe davon aus, dass dieser so bleibt, würden sich "die Infektionszahlen so in den nächsten drei Wochen verdoppeln", sagte Gartlehner zur APA: "Ob dann mit noch höheren Zahlen als jetzt geöffnet wird, wage ich zu bezweifeln."
Ansteckungsgefahr bei Schulsport im Freien gering
Dass negativ getestete Kinder wieder Schulsport im Freien betreiben können sollen, sieht Gartlehner positiv. Unter den gegebenen Voraussetzungen mit den engmaschigen Schultests im ohnedies schon bestehenden Klassenverband sei das Ansteckungsrisiko hier gering.
Wenn Vorarlberg mit seinen derzeit "eindrucksvoll niedrigen Zahlen" dann als eine Art Modellregion für Öffnungen fungieren wird, müsse man auch berücksichtigen, dass sich B.1.1.7 dort noch nicht so weit verbreitet hat wie im Osten des Landes. In den kommenden Wochen sei daher auch im westlichsten Bundesland mit Zuwächsen zu rechnen, betonte Gartlehner: "Es ist zum Osten einfach noch ein bisschen zeitversetzt." Vorarlberg werde dann angesichts der Öffnungen sehr aufpassen müssen, dass die Kontrolle nicht entgleitet.
Die umgekehrte Idee, etwa Bezirke mit sehr hohen Infektionszuwächsen beispielsweise nur noch mit negativem Testergebnis verlassen zu dürfen, erscheint dem Epidemiologen zumindest im Osten des Landes schwer umzusetzen. Die Geografie in alpinen Gebieten des Landes, lasse derartiges vielleicht noch eher zu, wenn man jedoch alleine an die Pendlerbewegungen zwischen Niederösterreich und Wien denke, sei das kaum vorstellbar.
Wirklich kümmern sollte sich die Politik möglichst bald darum, wie Menschen, die im vergangenen Jahr bereits eine Covid-19-Infektion durchgemacht oder bereits geimpft wurden, künftig behandelt werden. Hier handle es sich geschätzt schon um mehr als eine Millionen Österreicher, denen ein "eigener Status" zuerkannt werden sollte, was etwa Quarantänevorschriften betrifft. Wenn jemand auch länger als sechs Monate nach der Infektion noch Antikörper in größerer Anzahl aufweise, gebe es wenige Argumente, so jemanden noch als Infektionsgefahr einzustufen. Auch wenn Antikörpertests nicht komplett verlässlich seien, bräuchte es schon einen falsch positiven PCR- und einen ebensolchen Antikörperbefund, um hier einen schwerwiegenden Fehler zu machen, betonte Gartlehner. Nicht zuletzt sollten angesichts rarer Impfressourcen auch Personen identifiziert werden, die nicht unbedingt in den ersten Phasen der Kampagnen immunisiert werden müssten
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