Je mehr Medikamente, desto größer ist die Gefahr von Neben- bzw. Wechselwirkungen. Eine neue Studie von Experten der MedUni Wien belegt jetzt, dass ein Großteil von Patienten mit der häufigsten Herzrhythmusstörung (Vorhofflimmern) ein solches Risiko aufweist. Es wird durch zusätzliche Medikamente bei Inanspruchnahme einer Notfallambulanz auch noch stark erhöht.
"Polypharmazie ist ein wachsendes Problem in Gesundheitssystemen", schrieben Thorsten Bischof von Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie der MedUni Wien und die Co-Autoren der Studie, die vor kurzem in der Fachzeitschrift "Frontiers in Pharmacology" (doi: 10.3389/fphar.2024.1432713) erschienen ist. Die Problematik betrifft naturgemäß vorwiegend Menschen mit komplexer notwendiger medikamentöser Langzeittherapie wegen Mehrfacherkrankungen. Hinzu können aber zusätzliche Gefahrenpotenziale bei Inanspruchnahme von Notfallambulanzen wegen akut aufgetretener Gesundheitsprobleme entstehen.
Notfallambulanz besonders anspruchsvolles Arbeitsumfeld
Die Wissenschafter schrieben dazu: "Die Notfallambulanz ist ein besonders anspruchsvolles Arbeitsumfeld: Das medizinische Fachpersonal steht einer heterogenen Patientengruppe mit komplexen Erkrankungen gegenüber, die zeitkritisch sein können und schnelle Entscheidungen erfordern. Oft sind die Patienten weder in der Lage, eine detaillierte Krankengeschichte noch Informationen zu ihrer aktuellen Medikation vorzulegen. In diesem Umfeld kann eine gründliche und oft zeitaufwendige Analyse potenzieller Arzneimittelwechselwirkungen (pDDI; Anm.) einschließlich der Verwendung klinischer Entscheidungsunterstützungssysteme (CDSS; Anm.) schwierig sein."
Bischof und seine Co-Autoren analysierten deshalb nachträglich die Medikationsdaten von 200 Patienten mit Herz-Vorhofflimmern im mittleren Alter von 71 Jahren, die zwischen Jänner 2018 und Oktober 2019 in die Notfallambulanz des Wiener AKH (MedUni Wien) gekommen waren, eine Langzeit-Medikation einnahmen und an der Ambulanz Arzneimittel zur Kontrolle der Herzfrequenz oder der Rhythmusstörungen erhalten hatten. Mit einer geschätzten Häufigkeit von zwei bis vier Prozent in der Bevölkerung Europas ist das Vorhofflimmern die häufigste Herzrhythmusstörung mit potenziell gefährlichen Komplikationen. Man schätzt, dass etwa ein Fünftel der ischämischen Schlaganfälle darauf zurückzuführen sind.
Bisher unzureichende Studien
Bisher hätten Studien zu möglichen Arzneimittelwechselwirkungen in Notfallambulanzen vor allem Patienten mit unterschiedlichen Erkrankungen erfasst. Das sollte in diesem Fall anders sein. "Wir gingen davon aus, dass Patienten mit Vorhofflimmern ähnliche Mehrfacherkrankungen haben, ähnliche Medikamente erhalten und ähnliche potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen aufweisen."
Die Ergebnisse der Analyse sprechen jedenfalls sowohl in der Langzeit-Medikation von Patienten mit Vorhofflimmern als auch im Falle einer notwendigen akuten Betreuung in einer Notfallambulanz für die Sicherstellung einer möglichst optimalen Behandlung unter Einberechnung jedweder potenzieller Arzneimittelwechselwirkungen. So wurden bei den 200 Patienten insgesamt 1.018 in der Langzeitmedikation verschriebene Arzneimittelwirkstoffe (im Mittel fünf pro Erkranktem) registriert. Während der Betreuung in der Ambulanz erhielten die Patienten 558 Wirkstoffe (im Mittel drei pro Erkranktem).
664 potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen
In jedem Fall bedeutete das ein deutliches Risiko. "Innerhalb der Langzeitmedikation der Patienten identifizierten wir 664 potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen (im Mittel zwei pro Patient) über alle Schweregrade (...) hinweg. Die Gesamtzahl der pDDIs stieg um 1.421 (im Mittel um sechs pro Patient) auf insgesamt 2.085 pDDIs (im Mittel sieben pro Patient), als die Medikamente, welche die Patienten während ihres Aufenthalts in der Notaufnahme erhielten, in die Analyse einbezogen wurden", stellten die Fachleute fest.
An sich, so die Wissenschafter, müsste man eigentlich bei "fast jedem Patienten mit Vorhofflimmern Medikationsänderungen in Betracht ziehen". "Unseres Wissens nach ist dies die erste Studie, die diese spezielle Patientengruppe (Vorhofflimmern; Anm.) untersucht. Insgesamt haben wir 2.085 potenzielle Arzneimittelwechselwirkungen ermittelt, von denen 48 (zwei Prozent) mit dem höchsten Schweregrad (X, Kombination vermeiden) und 318 (15 Prozent) mit dem Schweregrad D (Therapieänderung erwägen) klassifiziert wurden. Ungefähr jeder fünfte Patient hatte mindestens eine kontraindizierte (nicht zu verwendende; Anm.) Medikamentenkombination, während 70 Prozent der Patienten mindestens eine Medikamentenkombination hatten, für die eine Therapieänderung empfohlen wird", schrieben die Fachleute in der Diskussion ihrer Ergebnisse. Es müsse auch unterstrichen werden, wie wichtig das Interaktionspotenzial neu verschriebener Medikamente im Umfeld von Notfallambulanzen sei.
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