Anhand des Erbguts von 356 Jägern und Sammlern, die vor 35.000 bis 5.000 Jahren Europa bevölkerten, hat ein Forschungsteam die steinzeitliche Besiedlungsgeschichte des Kontinents nachgezeichnet. Unter der analysierten alten DNA war auch jene der 2005 in Krems entdeckten "Wachtberg-Zwillinge" sowie von einem prähistorischen Fund aus Wöllersdorf-Steinabrückl (beide NÖ). Die bis dato genaueste Rekonstruktion zeigt u.a., dass zum Eiszeit-Höhepunkt Rückzugsorte extrem rar waren.
Insgesamt 125 Wissenschafter waren an der Analyse des größten genetischen Datensatzes von Mitgliedern von Jäger-Sammler-Gruppen im steinzeitlichen Europa und angrenzenden asiatischen Regionen beteiligt. Darunter auch die am Universalmuseum Joanneum in Graz tätige Silvia Renhart und die Archäologin Dorothea Talaa. 116 Erbgut-Überbleibsel aus dieser vom Vordringen und Rückzug der eiszeitlichen Gletscher mitgeprägten, für die Forschung schwer zu fassenden langen Zeitspanne wurden für die im Fachmagazin "Nature" erschienene Untersuchung neu analysiert. Darunter befindet sich auch die DNA aus einem Zahn aus Wöllersdorf-Steinabrückl.
Nach aktuellem Kenntnisstand erreichten die ersten Vertreter von "Homo sapiens" Eurasien vor etwa 45.000 Jahren. Im Erbgut der späteren Europäer findet sich die genetische Signatur dieser frühen modernen Menschen-Gruppen im einst noch vorrangig von Neandertalern besiedelten Gebiet aber nicht mehr, heißt es seitens der Wissenschafter. Sie konzentrierten sich daher auf die Zeit zwischen 35.000 und 5.000 Jahren.
Aus dieser Periode stammen auch die ersten genetischen Spuren, die bis zu den heutigen Bewohnern Westeurasiens zurückverfolgt werden können, heißt es in einer Aussendung der Universität Tübingen (Deutschland), wo der Erstautor der Studie, Cosimo Posth, forscht. Besonders interessierte sich das Team für die Abläufe um und nach dem "Letzten Glazialen Maximum" - also der Periode mit der größten Eisausdehnung in Europa vor rund 25.000 Jahren.
Erstaunliche Erkenntnisse
Eine erste erstaunliche Erkenntnis für die Forscher war, dass die auf den Zeitraum vor 32.000 bis 24.000 Jahren datierte Gravettien-Kultur zwar von der iberischen Halbinsel bis ins heutige Russland nachweisbar ist, die einzelnen Gruppen trotz relativ übereinstimmender Herangehensweise an das Anfertigen von Steinwerkzeugen und Kunstwerken, genetisch aber erstaunlich wenig miteinander zu tun hatten. Zu dieser Kultur gehörten auch die vor rund 31.000 Jahren unter einem Mammut-Schulterblatt am Wachtberg in Krems bestatteten Säuglinge, die im Jahr 2005 entdeckt wurden und seither im Naturhistorischen Museum (NHM) Wien untersucht werden. Bei dem spektakulären Fund handelt es sich um die älteste Zwillingsbestattung der Welt.
Die Wissenschafter um Posth ordnen ihr Erbgut nun dem "Věstonice-Cluster" - benannt nach Funden aus Dolní Věstonice im heutigen Tschechien - zu. Dieser wird als eine der beiden zentralen Gruppen angesehen, die die Gravettien-Kultur verkörperte. Die Vertreter besiedelten demnach die Gebiete der Tschechischen Republik über das heutige Österreich bis nach Italien. "Die Věstonice-Menschen waren wiederum Nachfahren von früheren Gruppen, die weiter aus dem Osten - einem Gebiet im heutigen Westrussland - kamen", schreibt Ludovic Orlando von der Paul Sabatier Universität in Toulouse (Frankreich) in einem Überblicksartikel.
Die zweite wichtige Gravettien-Untergruppe war laut Posth und Kollegen der "Fournol-Cluster", dessen Vertreter vor allem in West- und Südwesteuropa anzutreffen waren. Vor dem Eiszeit-Maximum vermischten sich Mitglieder beider Gruppen zwar vereinzelt, danach ging man aber getrennte Wege: Mit der Ausbreitung der Gletscher zogen sich nämlich die Fournol-Vertreter in den Süden der iberischen Halbinsel zurück. Dort überdauerten sie die härteste Periode der Eiszeit.
Ihre Nachfahren entwickelten dann die "Solutréen-Kultur" und ihr genetisches Erbe ist in der Folge auch in der "Magdalénien-Kultur" nachweisbar, die weite Teile Süd-, West- und Zentraleuropas im Zeitraum vor rund 18.000 bis 12.000 Jahren prägte. In dieses Bild passt auch eine im Fachblatt "Nature Ecology & Evolution" veröffentlichte neue DNA-Analyse eines rund 23.000 Jahre alten Fundes aus der "Cueva del Malalmuerzo" im Süden Spaniens.
Steinzeitliches Erbgut findet sich noch heute
Anders erging es den östlicheren Gravettien-Vertretern: Dachte man früher, dass diese in wärmeren Gefilden im heutigen Süditalien die Eiszeit überdauerten, verliert sich deren Erbgut aber nach dem Glazialen Maximum. Stattdessen sieht es danach aus, dass nach der Eiszeit Menschen vom Balkan über Nord- nach Süditalien kamen. Die Nachfahren dieser Menschen - die Forscher sprechen vom "Villabruna-Cluster" - machten sich dann laut den neuen Erkenntnissen vor rund 14.000 Jahren in weitere Teile Europas auf, und ersetzten dort sukzessive die Magdalénien-Vertreter.
Zu jener Zeit wurde es relativ rasch wärmer und Wälder breiteten sich über den Kontinent aus. "Dies könnte Menschen aus dem Süden veranlasst haben, ihren Lebensraum zu erweitern", so einer der Hauptautoren der Studie, Johannes Krause, von der Uni Tübingen. Die Bewohner weiter im Norden räumten diese Gegenden womöglich, weil ihr Lebensraum, die "Mammut-Steppe", geschrumpft ist.
Nördlich der Alpen mischten sich in etwa vor 14.000 Jahren u.a. Magdalénien- und Villabruna-Vertreter, schreibt Orlando. Das Erbgut dieser von Posth und Kollegen "Oberkassel-Gruppe" genannten Menschen kann heute noch über weite Teile des Kontinents - von Großbritannien bis Polen - nachgewiesen werden. Auch die DNA des Fundes aus dem im Bezirk Wiener Neustadt gelegenen Wöllersdorf-Steinabrückl lässt sich der "Oberkassel-Gruppe" zuordnen, heißt es in der Arbeit.
In der Folge lebten Jäger-Sammler-Gruppen im Westen und Osten Europas offenbar sehr lange getrennt. Erst vor etwa 8.000 Jahren scheinen sich laut den Wissenschaftern die Gruppen aus dem Osten, in denen es mehr Menschen mit hellerer Haut und dunkleren Augen gab, mit der "Oberkassel-Gruppe" vermischt zu haben. Als ein Treiber dieser Entwicklung könnte der sich aus der heutigen Türkei langsam in Richtung Europa ausbreitende landwirtschaftliche Lebensstil fungiert haben, der die Jäger-Sammler-Gruppen in den Norden ausweichen ließ.
Service: Die Arbeiten online unter https://doi.org/10.1038/s41586-023-05726-0 und https://doi.org/10.1038/s41559-023-01987-0
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