13.6.2024, 14:26 Uhr

Wenig beleuchteter Faktor Zersiedelung: "Massiver Anstieg" seit 1975

Bild

Die Zersiedelung, also die Ausbreitung von Siedlungen in die Landschaft in geringer Dichte, ist ein noch wenig thematisierter Aspekt beim hierzulande "heiß diskutierten" Thema des Bodenverbrauchs, meinten Experten bei einer Pressekonferenz in Wien. Dass es ein bedeutender Aspekt ist, zeigten die vorgelegten Zahlen: Stark zersiedelte Flächen haben sich demnach seit dem Jahr 1975 verfünffacht.

Forschende der Universität für Bodenkultur (Boku) Wien und des deutschen Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) haben den Grad der Zersiedelung in Österreich von 1975 bis 2020 in Fünfjahresschritten erhoben und zwar mit einer Auflösung von 100 mal 100 Metern der Flächen (Rasterzellenauflösung). Möglich wurde diese zeitlich weit zurückreichende Analyse über die Auswertung neuster Daten des Global Human Settlement Layer (GHSL).

Landfressendste und ressourcenintensivste Form der Bebauung

Die Fläche, die als hoch und sehr hoch zersiedelt gilt, stieg hierzulande in dem untersuchten Zeitraum, also den knapp 50 Jahren, von rund 1.100 Quadratkilometern auf etwa 5.800 Quadratkilometer, wie IÖR- und Boku-Forscherin Anna-Katharina Brenner ausführte. Besonders besorgniserregend sei, dass die Bebauung mit einem sehr hohen Zersiedelungsgrad - als "die landfressendste und ressourcenintensivste Form der Bebauung" - am schnellsten wächst, sagte Ökologe Helmut Haberl von der Universität von Bodenkultur (Boku) Wien.

Zwischen dem Jahr 1975 und 2020 wuchs die Fläche der bebauten, einen Hektar großen Rasterzellen in Österreich von rund 9.000 auf etwa 12.700 Quadratkilometer, "nahezu die Fläche des Burgenlands", wie es hieß. Hier eingeschlossen ist jegliche Fläche mit Bebauung, also auch innerstädtisches bzw. sehr verdichtetes Gebiet. "1975 war Österreich dabei überwiegend gering zersiedelt", so Brenner, 73 Prozent der bebauten Flächen wurden damals als gering oder sehr gering zersiedelt klassifiziert. "2020 waren es nur noch 35 Prozent", führte sie weiter aus.

Unter Einbeziehung der zeitgleich stattfindenden Verfünffachung der hoch und sehr hoch besiedelten Flächen sprach die Studienautorin von einem "massiven Zuwachs" und einem "Highway to Sprawl" (auf Deutsch etwa: Autobahn zur Zersiedelung). Im Bundesländervergleich zeigte sich, dass es in allen Bundesländern, bis auf Wien, einen Anstieg beim Zersiedelungsgrad gab. Die Fläche der bebauten Rasterzellen, die als sehr hoch zersiedelt gelten können, hätten sich aber in Oberösterreich, Kärnten und der Steiermark bis 2020 um das Acht- bis Dreizehnfache vergrößert. Das Burgenland, Niederösterreich und Oberösterreich waren 2020 die am stärksten zersiedelten Bundesländer.

Einfamilienhäuser, Gewerbegebiete und Einkaufszentren

Das Phänomen der Zersiedelung ist dabei besonders durch freistehende Einfamilienhäuser, großflächige Gewerbegebiete und Einkaufszentren "auf der grünen Wiese" wahrnehmbar. Sie steht für einen hohen Flächenverbrauch pro Person und enorme Ressourcenintensität, wie Haberl meinte: "Wir überbauen in zersiedelten Strukturen, die besonders stark die Landschaft beeinträchtigen."

Katharina Rogenhofer, Sprecherin des Instituts "Kontext", verwies auf die Bedeutung der Böden, u.a. auch als CO2-Speicher und in ihrer Funktion als Versickerungsgebiete, insbesondere bei Starkregen, wie er sich gerade wieder in den vergangenen Wochen ergeben hätte. Mit dem Verlust an natürlichem Boden - Hochrechnungen gehen hierzulande von 12 Hektar pro Tag aus - "verlieren wir unsere Lebensversicherung". Zersiedelung, auch unter dem Aspekt des notwendigen Straßenbaus und weiterer Infrastruktur, führe zu mehr Ressourcenverbrauch, gleichzeitig spiele in zersiedelten Gebieten das Auto eine entscheidende Rolle.

Aus Sicht der Raumplanung stünden alle Instrumentarien bereit, so Boku-Professor Gernot Stöglehner, um die Zersiedelung zu begrenzen. Als Beispiel nannte der Experte etwa die Festlegung von "360-Grad-Siedlungsgrenzen um jede Ortschaft" als ausgewiesene Räume, wo Wohnen, Arbeiten oder auch Einkaufen "in maßvoller Dichte" angesiedelt werden könnten. Auch gehe es um die Nutzung von Leerständen, etwa der Sanierung leerstehender Höfe, wie auch die Nutzung von Baulücken oder die Aufstockung von Bebauung. Stöglehner sprach sich auch dafür aus, dass die Belassung von Baulücken und Leerstand Kosten verursachen und zur Abrechnung eine neue steuerliche Kategorien geschaffen werde.

Der massive Anstieg des Zersiedelungsgrades in Österreich ist für die Expertinnen und Experten ein Ergebnis der Politik, die den Bau von Einfamilienhäusern oder auch Gewerbegebieten außerhalb des verdichteten Raumes nicht im Wege stand. Aber es gehe nicht um die Schuldfrage, sondern vielmehr darum, die Relevanz der Zersiedelung zu begreifen und nun politisch zu handeln. Eine österreichische Bodenstrategie ohne quantitatives Bodenschutzziel bringe nichts. Man müsse sich auf ein Ziel festlegen, also das Ziel, den Bodenverbrauch bis 2030 auf 2,5 Hektar pro Tag zu beschränken. Oder noch besser: dem "Netto-Null-Flächenverbrauch" bis 2050. "Das wäre noch wichtiger, um hier entgegenwirken zu können", war der Tenor.

Zersiedelung eindämmen

Es ginge dabei weniger Entsiegelung von bereits verbauten Flächen, sondern vielmehr um das Eindämmen fortschreitender Zersiedelung. Bereits bebaute Flächen sollten klug weiterentwickelt werden. "Mit der Zersiedelung kann man sich auch das anvisierte Konzept der Kreislaufwirtschaft in die Haare schmieren", so Haberl unter Verweis auf Ressourceneffizienz. Aber das vielleicht Entscheidendste sei: "Man muss von der Verzichtsrhetorik wegkommen", etwa auch im Hinblick auf das Auto. Vielmehr gehe darum zu erkennen, dass man in dicht bebauten Gebieten eine hohe Lebensqualität schaffen und sich etwa von der Autoabhängigkeit befreien kann, dass das Leben in der Stadt viele Vorteile bietet sowie dass eben dort ein "gutes klimafreundliches Leben" möglich sei.

Service: Youtube-Animation - Zersiedelungsentwicklung in Österreich von 1975 bis 2020: https://www.youtube.com/watch?v=YKVrTYNjvpA, Studie: https://boku.ac.at/en/wiso/sec/publikationen/social-ecology-working-papers)

APA/red Foto: APA/APA/dpa/Karl-Josef Hildenbrand