Don't judge a book by its cover. Wer den grafisch wenig ansprechenden Umschlag von "Stadt der Ideen" betrachtet, käme nicht auf die Idee, eines der fulminantesten Bücher über die jüngere Geschichte Wiens vor sich zu haben, das völlig zu Recht für das "Wissenschaftsbuch des Jahres" und den Bruno-Kreisky-Preis nominiert ist. Es geht um eine Zeit, "als Wien die moderne Welt erfand". Der Autor ist des Lokalpatriotismus unverdächtig. Es ist der Brite Richard Cockett.
Der Historiker und "Economist"-Journalist, der sich in seinen bisherigen Büchern etwa mit Burma und dem Sudan auseinandergesetzt hat, stieß über Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie wie Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek auf ein gesellschaftliches Klima, das Wien in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zur Brutstätte moderner Ideen machte. Es herrschte eine intellektuelle Aufbruchstimmung von ungeheurer Strahlkraft.
Wiens Saat ging woanders auf
Cocketts ideengeschichtlicher und wissenschaftshistorischer Ansatzpunkt unterscheidet sich von dem Bild des "Fin-de-Siècle Vienna", das der US-Historiker Carl E. Schorske mit seinem 1980 erschienenen gleichnamigen Buch geprägt hat. "Wien um die Jahrhundertwende" wurde zu einer Weltmarke, die Preise für Werke nicht nur von Gustav Klimt und Egon Schiele in die Höhe trieb, sondern die ehemalige Hauptstadt der K. u. k.-Monarchie zum touristischen Hotspot machte. Cockett jedoch weitet den Blick - thematisch, zeitlich und geografisch. Er beleuchtet viele unterschiedliche Wissenschafts- und Lebensbereiche und interessiert sich auch für die Zeit nach dem "Anschluss". Dass sich die in Wien entstandenen Ideen so rasant über die Welt verbreiten konnten, lag auch daran, dass ihre Erfinder vertrieben wurden. Die Saat ging woanders auf.
Schon das erste der rund 130 teils erstaunlichen Fotos des liebevoll ausgestatteten Bandes überrascht. Es zeigt dauergewellte US-Ladys, die vor einem Swimmingpool relaxen. Der Wiener Architekt Richard Neutra hat in Palm Springs mit seinen modernen Villen den "American Way of Life" miterfunden, so Cockett. 250 Seiten später stößt man auf das Foto eines hohen Raumes, der mit seiner orientalischen Überladenheit irritiert. Es ist die Eingangshalle des Prunk-Anwesens Mar-a-Lago in Florida, seit 1985 in Besitz von Donald Trump, ausgestattet von Filmkulissen-Pionier Joseph Urban, 1872 und damit 20 Jahre vor Neutra in Wien geboren. Er wanderte schon 1911 in die USA aus, Neutra 1923. "Oft wird außer Acht gelassen, wie viele Wienerinnen und Wiener ihre Heimatstadt verließen, lange bevor der nahende Zweite Weltkrieg eine Massenemigration erzwang", schreibt Cockett, der den Wienern in Amerika und Großbritannien zwei große, eigene Kapitel widmet.
Das Buch wird in drei großen Teilen entlang der Zeitachse entwickelt - vom Vielvölkerstaat und dem "Schwarzen Wien" des Populisten und Antisemiten Karl Lueger, in dem Kaffeehausdebatten ganze Uni-Vorlesungen ersetzen konnten, über "Aufstieg und Fall des Roten Wien" bis zu den "Emigranten und Exilanten". Seinen wirklichen Reichtum entfaltet die "Stadt der Ideen" jedoch in seiner Breite.
Brillanter Netzwerke der Kulturgeschichte
Biologe Paul Kammerer und Sozialforscherin Marie Jahoda, Mathematiker Kurt Gödel und Städteplaner Victor Gruen, der Erfinder der ersten Shopping Malls, die Filmregisseure Billy Wilder und Fred Zinnemann, Schauspielerin und Erfinderin Hedy Lamarr, die Philosophen Moritz Schlick und Karl Popper, die Nationalökonomen Otto Neurath und Friedrich August von Hayek, Keramikkünstlerin Lucie Rie und Designerin Gaby Schreiber, Kunsthistoriker Ernst Gombrich und Operndirektor Rudolf Bing, Motivforscher Ernest Dichter und Peter Drucker, Pionier der Managementlehre - es wirkt wie ein gewaltiges Namedropping, das hier versammelt ist, doch Cockett stellt Querverbindungen und Bezüge, Aus- und Nachwirkungen her. Er agiert als brillanter Netzwerker der Kulturgeschichte, der einen sehr spezifischen Blick entwickelt hat: Überall, wo er genauer hinsieht, scheint ein Wiener oder eine Wienerin dahinterzustecken.
In seiner Bilanz hebt Cockett den kritische Rationalismus jener Männer und Frauen hervor, die sich nicht als Genies begriffen, die sich über alles hinwegsetzten, sondern als Analytiker, die beim Menschen und seiner Lebenswirklichkeit ansetzten. "Anstatt die berauschende Macht der Rhetorik einzusetzen, konzentrierten sie sich auf belastbare Erkenntnisse", schreibt er. "Die Wienerinnen und Wiener erwarben sich den Ruf, Meister der Integration und der Synthese zu sein." Inklusion und Kooperation, Pluralismus und Liberalismus hätten sich als erfolgreicher erwiesen als die "grausame und sektiererische Identitätspolitik des Ethnonationalismus". Offenheit ist besser als Ausgrenzung und Abschottung - die zentrale Botschaft dieses Buches könnte nicht aktueller sein.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
Service: Richard Cockett: "Stadt der Ideen - Als Wien die moderne Welt erfand", Aus dem Englischen von Stephan Gebauer, Molden Verlag, 432 Seiten, 40 Euro, Präsentationen: 21.11., 19 Uhr, Universität für Angewandte Kunst Wien; 22.11., 11.30 Uhr, Buch Wien)
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